Täglich stehen Pferde in der Natur vor der Herausforderung, aus einer Vielzahl von Pflanzen diejenigen auszuwählen, die ihnen die benötigten Nährstoffe liefern, ohne dabei Schaden zu nehmen. Doch wie entscheiden Pferde, welche Pflanzen sie fressen sollen und welche nicht? Über Jahrmillionen Koevolution mit den Pflanzen ist es für unsere Pferde überlebensnotwendig geworden, selektiv zu fressen. Daraus ist das postingestive Feedback entstanden. Die Beschäftigung mit dem selektiven Fressen lässt eine ganze andere Weise der Pferdeernährung zu, eine, die das Pferd als eigenen Experten für seinen Körper anerkennt.
Woher weiss mein Pferd, wie viele beispielsweise Eicheln es fressen kann, ohne sich zu vergiften?
Das „Zauberwort“ heißt "postingestives Feeback " ("post" = nach, "ingestiv" von "ingest" = aufnehmen).
Wenn Pferde fressen, wird die Nahrung nicht einfach verarbeitet und ausgeschieden. Stattdessen senden verschiedene Zellen und Organe im Körper Rückmeldungen an das Gehirn. Jeder Bestandteil jeder noch so kleine Mahlzeit führt dazu, dass Zellen und Organe im Körper eine Rückmeldung an das Gehirn geben.
Diese Rückmeldung erfolgt größtenteils über:
den Vagusnerv
Hormone
Neurotransmitter
Bakterielle Stoffwechselprodukte
Die Herausforderung der Pflanzenwahl
Pflanzenfresser müssen tagtäglich zwischen dem nützlichen und schädlichen Effekt jeder Pflanze mit ihrem individuellen Profil an sekundären Pflanzenstoffen abwägen. Sie probieren daher vorsichtig unbekannte Pflanzen aus und wenn das Feedback positiv ist (sprich: benötigte Nährstoffe werden bereitgestellt), wird die Aufnahme des neuen Futters erhöht. Bei negativen Konsequenzen - wie Krankheiten aufgrund von Toxinen oder mangelndem Feedback, weil das Futter arm an Nährstoffen ist - wird die Aufnahme reduziert.
Jede neue Pflanze erweitert die Bibliothek des Pferdes
Die neue Pflanze wird mit der Wirkung auf den Körper mit all seinen Zellen und auch der Darmflora verknüpft.
So legt das Pferd, wenn es die Möglichkeit hat, eine Bibliothek der unterschiedlichen Nahrungsmittel an. Hier sind nicht nur die Nährstoffe verknüpft, sondern auch die Wirkung der verschiedenen sekundären Pflanzenstoffe auf die zellulären Prozesse. Entsprechend ist nicht nur eine Versorgung mit allen benötigten Nährstoffen, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstmedikation gegeben.
Pferde lernen selektives Fressen nicht zwingend von ihrer Mutter
Bei wild- oder sehr natürlich lebende Pferde spielt die natürliche Mischung von naiven und erfahrenen Tieren eine große Rolle:
naive Tiere: sind entweder jung oder haben in ihrem bisherigen Leben keinen Zugang zu Pflanzenvielfalt gehabt
erfahrene Tiere: haben durch unzähliges postingestives Feedback eine beachtliche Bibliothek aufgebaut.
Sehen naive Tiere, dass erfahrene Tiere (und das müssen nicht unbedingt die Mütter sein), Pflanzen fressen, die sie noch nicht kennen, sind sie neugieriger und motivierter, diese Pflanze auch zu probieren. Genau so vermeiden sie Pflanzen, die die erfahrenden Tiere nicht fressen.
Warum vergiften sich Pferde trotzdem?
Es gibt viele Gründe, warum es mit dem selektiven Fressen bei einem Pferd möglicherweise nicht klappt. Hauptsächlich können wir sie unterteilen in:
Grundbedürfnisse sind nicht erfüllt.
Die Mechanismen des selektiven Fressens greifen nicht, weil die Nahrung künstlich oder verarbeitet ist.
Die häufigsten Ursachen, warum Pferde nicht oder nur eingeschränkt selektiv fressen, sind die folgenden:
1. Hunger
Pferd die hungrig sind werden eher Mengen von Pflanzen fressen, die ihnen schaden können, als satte Pferde. Durch den Hunger kann je nach Ausmaß, die Fähigkeit zum selektive Fressen gestört oder komplett verhindert sein.
2. Kein Zugang zu frischer Nahrung
Wenn dein Pferd in seinem Alltag keinen Zugang zu frischer Nahrung hat, kann es sein, dass es
nur Gras fressen will und kein Interesse an anderen Pflanzen hat
es frische Pflanzen in Mengen frisst, die ihm schaden.
Pferde haben ein natürliches Bedürfnis nach frischer Nahrung – so wie wir, wenn wir vielleicht eine lange Zeit nur Trockenfrüchte gegessen haben. Das liegt daran, dass Nährstoffe und auch Mikroorganismen unter dem Trocknungsvorgang leiden.
3. Prozessierte Nahrung
Bereits das Trocken, Pellettieren (und Erhitzen) oder Mischen von natürlichen Futtermitteln kann es schwierig oder unmöglich für das Pferd machen, selektiv zu wählen.
Viele Pflanzen verlieren zum Beispiel beim Trocknen ihren charakteristischen Geschmack und Geruch. Ein Grund dafür, warum das Selektieren von Giftpflanzen im Heu oft nicht gut funktioniert.
Auch beim Mischen können Geschmäcker und Gerüche maskiert werden, gerade wenn schmackhafte Bestandteile für die bessere Akzeptanz untergemischt werden. Das kann man sich natürlich zu nutze machen, wenn das Pferd etwas bestimmtes fressen soll, aber hier können wir nicht mehr von einer Selektion ausgehen.
4. Unnatürliche Nahrung
Unsere Pferde haben sich über die Millionen Jahre Evolution an ihre natürliche pflanzliche Nahrung angepasst. Die vom Menschen veränderte oder künstlich hergestellte Nahrung, die wir unseren Pferden erst einen Bruchteil dieser Evolutionszeit füttern, kann die Mechanismen des selektiven Fressens untergraben.
5. Du denkst es nur
Ich erhalte tagtäglich besorgte Nachrichten, dass Pferde Rosskastanien, Efeu, Mistel, Farn, Ginster oder Blätter des Bergahorn gefressen haben. In allen Fälle konnten Informationen zur Dosis für Giftigkeit beruhigen, keines der Pferde hatte Folgeprobleme und oft hat die spezifische Wahl im Kontext der jeweiligen Heilwirkung sogar Sinn bei dem jeweiligen Pferd gemacht. Warum giftige Pflanzen in einer gewissen Dosis eine heilende Wirkung haben können, kannst Du in diesem Artikel nachlesen.
Fazit
Trotz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse glauben viele immer noch, dass Pferde nicht selektiv fressen können. Doch das Gegenteil ist wahr!
Wenn wir zunächst einmal akzeptieren, dass es für unsere Pferde über Jahrmillionen Koevolution mit den Pflanzen überlebensnotwendig geworden ist, selektiv zu fressen und daraus das postingestive Feedback etabliert wurde, wird es schon viel einfacher.
Wir können uns unter den Limitationen dieser Mechanismen langsam herantasten und mit unserem Pferd die Weisheit der Natur wieder entdecken.
Wie du konkret das selektives Fressen deines Pferdes förderst, mit Giftpflanzen umgehst und wie du sekundäre Pflanzenstoffe gezielt zur Therapie von Zivilisationserkrankungen einsetzt, lernst du in meinem Onlinekurs "Mikrobiomfreundlichen Pferdeernährung".
Die Wiederherstellung der natürlichen Artenvielfalt und die Therapie von Dysbiosen sind die Basis dieses Kurses. Du tauchst in die faszinierende Welt des Pferdedarmmikrobioms ein und lernst, wie Dysbiosen mit Zivilisationserkrankungen wie Insulinresistenz, Allergien oder Entgiftungsstörungen verknüpft sind. Der Kurs vermittelt Dir ganz praktisch, wie Du diese Erkrankungen an ihrem Ursprung behandelst und Deinem Pferd mit Hilfe der Natur dauerhaft zu einem gesunden Darmmikrobiom verhelfen kannst.
Literaturempfehlungen
Zum selektiven Fressen:
Nourishment von Prof. Fred Provenza: What Animals Can Teach Us About Rediscovering Our Nutritional Wisdom (Englischsprachig)
Zur Pflanzenkunde
Ganzheitliche Pflanzenkunde im Jahresverlauf für Pferdehalter von Vanessa Michels
Das verlorene Buch der Kräuterheilmittel von Nicole Apelian, Ph.D. & Claude Davis
Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen von Prof. Dr. Dr. h. c. Matthias F. Melzig und Prof. Dr. Karl Hiller
Über mich:
Ich bin Michelle und lebe mit meinen beiden Pferden Fjörnir und Vindur in der schönen Bielefelder Senne und habe das Glück mit Equiflora meine beiden großen Leidenschaften Pferde und die (Mikro)biologie verbinden zu können. Ich bin mit Pferden aufgewachsen und beschäftige mich als Biotechnologin und Molekularbiologin seit über sieben Jahren als Wissenschaftlerin in der industriellen Forschung mit dem Mikrobiom von Tieren und Menschen. Meine Begeisterung für Pferde und Mikroorganismen hat mich zur Pferdeernährung geführt.
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